Mein eigentliches Thema in diesem Beitrag ist die berühmte Nächstenliebe. Erwarten Sie nun allerdings kein abgedroschenes Hohelied auf diese Liebe, damit kann ich nicht aufwarten. Mein Lebensthema ist nämlich eher die Selbstliebe und ich möchte hier eine Lanze für sie brechen.

„Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“ – wir alle kennen diesen Satz. Er ist zentraler Schwerpunkt des Christentums, nur stehen diese beiden Aspekte der Liebe im Bewusstsein der Menschen nicht gleichwertig nebeneinander. Die Nächstenliebe wird grundsätzlich überbetont, hervorgehoben – sie wird gewissermaßen angemahnt, so als hätten wir alle viel zu wenig davon. Verantwortung für diese Entwicklung trägt m. E. „Kirche“.

Was ist die Folge einer Jahrhunderte dauernden Ermahnung an die Nächstenliebe? Die Folge kann sein, dass der normale Mensch verlernt, seiner ihm innewohnenden, natürlich begabten Liebesfähigkeit zu vertrauen.

Es scheint nicht genug zu sein, was er an Liebe aufbringt. Er hat sich noch mehr zu bemühen, er sollte noch mehr Liebe aus sich heraus holen. Nicht immer an sich selber denken sondern an die Anderen. Vielen Christen sitzen diese Gedankenmuster im Nacken.

Selbstliebe wird leider oft als Egoismus ausgelegt und ist daher verpönt. Mit zuviel gelebtem Egoismus macht man sich schuldig im sozialen Sinne. Es gehört eine gute Portion Selbstvertrauen dazu, seine Selbstliebe offen zu leben.

Was aber ist Selbstliebe im besten Sinne eigentlich?

Selbstliebe heißt, dass ich mir das geben kann, was ich benötige, dass ich mich selber schätze und achte, dass ich mich ernst nehme in meinen Gefühlen, Bedürfnissen und Gedanken, dass ich mir beistehe, wenn ich es nötig habe. Selbstliebe heißt, dass ich versuche, mir nahe zu sein, mir sogar immer näher zu kommen, damit ich meine Regungen verstehen lerne, sie deuten kann und eine innere Aufsicht über sie führen kann. Diese Aufsicht verlangt u. U. auch, dass ich mich selber mit Nachsicht erziehe, mir gute Gewohnheiten schaffe.

Selbstliebe heißt, sich seiner Ängste anzunehmen, für sich selber Sorge zu tragen auf allen Ebenen und seine Ängste zu überwinden suchen.  
Selbstliebe heißt, keine Erwartungen an andere zu richten, sondern mich selber mit dem zu versorgen, was ich vermisse.
Selbstliebe heißt, mit sich im Reinen zu sein und jeden Tag aufs Neue zu probieren, diese Reinheit wieder herzustellen, weil das Leben mich immer wieder aus der Balance bringen kann.
Und Selbstliebe heißt, mir selber gegenüber Nachsicht zu üben, mir verzeihen zu können – mich selber in den Arm zu nehmen, wenn ich es brauche.

Wenn ich mich selber lieben kann, bin ich wie ein Krug, der voll ist. Wenn nun noch Liebe von außen hinzu kommt, schäumt der Krug über, ich kann abgeben, es fließt automatisch aus mir heraus, denn ich selber bin ja schon voll davon.
Wenn ich mich jedoch nicht selber liebe, kann ich die Liebe nicht halten, ich empfinde permanenten Mangel, den ich mit sonstwas in der Welt zu stopfen versuche. Ein Loch ist im Eimer … und was oben hineingetan wird, durchspült mich zwar kurz, lässt eine Ahnung davon aufkeimen, wie schön Liebe sich anfühlt, aber es fließt unten alles wieder heraus. Ich vertraue der Liebe nicht, denn ich kann mich ja nicht einmal selber lieben.

Ich möchte zudem behaupten, dass Selbstliebe dafür sorgt, sich seiner Menschenwürde bewusster zu sein. Hassmails zeugen nicht von dieser Würde. Sie zeugen von großem, tiefsitzendem Mangel.

Wie aber soll mit Nächstenliebe ein Eimer gefüllt werden, in dem sich ein Loch befindet?
Und wie soll ein Anderer es zuwege bringen, den fremden Eimer zu stopfen?

Es wäre schön, wenn „Kirche“, die großen Kenner der Nächstenliebe, sich an dieser Stelle umorientierten und den Menschen deutlich machten, wie wichtig die Selbstliebe doch ist. Aber wie sollen Menschen, denen das weibliche Element schon vom Grundsatz her fehlt, Lehrmeister sein zu diesem Thema???